Nach dem schulischen Abschluß (Mittlere Reife) wurde ich durch meine Eltern zu einer Ausbildung in einem Büroberuf gedrängt. Mein Vater war Handwerker und er wollte, daß ich es „besser und sicherer“ als er habe. Am Ende blieb die Wahl zwischen der öffentlichen Verwaltung und einer Bank oder Sparkasse. Gegen die Ausbildung bei einer Bank habe ich mich vehement gewehrt, da ich mir nicht vorstellen konnte, den ganzen Tag mit Anzug und Krawatte herum zu laufen. Schließlich bekam ich einen Ausbildungsplatz bei der Stadtverwaltung in Speyer. Ich habe die Beamtenlaufbahn (gehobener Dienst) von Anfang an durchlaufen und während meiner fast 35-jährigen Tätigkeit tiefe Einblicke in das Beamten- und Staatssystem erhalten. Dabei wurde mir über die Jahre hinweg mehr und mehr klar, daß ich eigentlich nicht für dieses System geeignet bin. So ist mir auch – wenn auch erst sehr viel später – deutlich geworden, warum andere, oft deutlich jüngere und unerfahrenere Beamte Karriere gemacht haben, während ich auf der Strecke blieb. Aber „mitlaufen“, „mitschleimen“ und im rechten Augenblick „glänzen“ oder in die richtige Partei einzutreten – das alles war und ist nicht meine Sache. Nach einer Ehescheidung und einer darauf folgenden persönlichen Krise habe ich mich ein Jahr beurlauben lassen. Während dieser Zeit machte ich ein Praktikum in einer alteingesessenen Schreinerei, da mich Holzarbeiten schon immer interessiert haben. Ich bin dem Inhaber heute noch dankbar, daß er mir diese Chance gegeben hat. So bekam ich Einblicke in eine andere Welt und lernte Menschen kennen, für die das Wort „Sicherheit“ und „Vorschrift“ nicht die Bedeutung hatte, die ich im Rahmen meiner Beamtenlaufbahn erlebt habe. Am Ende des Praktikums hatte ich nicht den Mut für den beruflichen Umstieg. So begann ich wieder bei der Stadtverwaltung zu arbeiten, beantragte jedoch kurze Zeit danach eine Teilzeitstelle. Ich war der erste Mann und noch dazu Beamter, der jemals dort einen solchen Antrag gestellt hatte. Zur damaligen Zeit ein Unding – Männer hatten Karriere zu machen, bei Frauen mit Kindern hatte man Verständnis dafür. Noch nicht einmal der Personalrat hat mich dabei wirklich unterstützt – im Gegenteil ! Ob ich mit dem Gehalt überhaupt leben könnte wurde ich gefragt. Das konnte ich sehr wohl, denn bei meinen vielen Reisen, auch mit dem Rad, habe ich Bescheidenheit und Demut gelernt. Nur durch einen persönlichen Kontakt mit einem ehemaligen Fußballspieler und 1.FC Kaiserslautern-Unterstützer und der „Sympathie zweier Radfahrer“ * bekam ich schließlich eine Teilzeitstelle. So hatte ich endlich Gelegenheit neben meiner normalen Arbeitszeit anderen Dingen mehr Gewicht zu geben, z.B. Garten und Permakultur, Selbstversorgung, Radfahren, Diavorträge etc.
Auch begann ich nebenberuflich den ersten Rikscha-Service im Südwesten Deutschlands aufzubauen. Anfangs belächelt und nicht für voll genommen wurde ich bekannt in Funk und Fernsehen. „Speyer by Bike“ – eine Stadtrundfahrt mit dem Rad etablierte sich auch über die Jahre. Außerdem machte ich meinen Abschluß als staatlich geprüfter Betriebswirt für Touristik.
In diesen und den folgenden Jahren wurde mir mehr und mehr klar, daß man mit wenig Geld auskommen kann, wenn man seine Bedürfnisse neu gestaltet und daß die weitgehende Abkehr vom „normalen“ Gesellschaftssystem ein zentrales Anliegen von mir ist und war. Schon zu Zeiten der Anti-Atomkraft-Bewegung und der Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa war ich rebellisch und revoluzionär – nur traute ich mich nicht voll und ganz in der Öffentlichkeit dazu zu stehen. Als Beamter war das auch nicht so einfach. Aber immer mehr merkte und fühlte ich, daß mir all die Sicherheit die über Jahre hinweg seit dem Elternhaus aufgebaut und gelebt wurde, zu einem Gefängnis für mich geworden war. Und nachdem ich schon in jüngsten Jahren das Gefühl hatte, in einem Gefängnis aufgewachsen zu sein, war es nur noch eine Frage der Zeit mich von diesen mich umgebenden Mauern zu befreien. Während einer Recherche im Internet über Selbstversorgung fiel mir ein Artikel von Gerhard Schönauer „Zurück zum Leben auf dem Lande“ ins Auge **. Nachdem ich das (vergriffene) Buch über viele Umwege doch noch bekommen konnte und das Titelbild sah konnte ich mich wieder deutlich daran erinnern, daß ich bereits kurz nach meinem Realschulabschluß dieses Buch in einer Bücherei entliehen und regelrecht verschlungen hatte. Schon damals spürte ich den dringenden Wunsch auf´s Land zu ziehen, mich selbst zu versorgen und dem großen Trubel zu entfliehen. Ich sah aber zum damaligen Zeitpunkt am Beginn meiner Ausbildung keine Möglichkeit das zu realisieren. Jetzt, nachdem ich mich wieder und wieder intensiv mit dem Thema beschäftigt hatte wurde mir klar, daß ich es jetzt wagen könnte. Auch meine letzte Arbeitsstelle beim Amt für Jugend und Soziales und die dortigen Zukunftsaussichten und Arbeitsumstände machten meine Entscheidung weg zu gehen einfacher.
In der Zwischenzeit hatte ich meine jetzige Frau Guiselle aus Guatemala kennen gelernt und da diese in ihrem Land jenseits von Sicherheit aufgewachsen war, konnte ich auch mein Sicherheitsbedürfnis zurück stellen. Im Jahre 2010 war es dann soweit. Ich beantragte die (zunächst) maximal mögliche Dauer einer Beurlaubung vom Dienst für 6 Jahre. Viele meiner Kollegen hielten mich damals endgültig für verrückt. Vor allem die Zeitdauer war unverständlich. Aber ich wußte schon aus Erfahrung, daß ein Jahr gar nichts ist und daß man Zeit braucht, wenn sich etwas neues entwickeln soll. Deshalb habe ich alles auf eine Karte gesetzt, schließlich war und bin ich ja auch nicht mehr der jüngste. Persönlich reifte bis dahin die Entscheidung für einen kompletten Neuanfang weg von Speyer und der gewohnten Umgebung. So gab ich in einer Umweltzeitschrift eine Suchanzeige nach einer neuen Wohn- und Wirkungsstätte auf. Es gab eine nie erwartete riesige Resonanz und am Ende überlies uns eine junge Frau aus der Schweiz ihr Haus in Südfrankreich zu sehr günstigen Bedingungen. Ich hatte dort mit meiner Frau sehr viel Entscheidungsfreiheit, ein Bio-Garten konnte angelegt werden und sogar Teile des Hauses an Feriengäste vermietet werden. So ergab sich ein neues, völlig anderes Betätigungsfeld als bisher. Wir luden auch Freiwillige aus aller Welt ein, die bei Arbeiten im Garten und rund um´s Haus mithalfen und dabei ihren Horizont erweiterten. Aber auch ich profitierte durch den Umgang mit diesen jungen Menschen durch neue Ansichten und Gedanken, die völlig anders waren als das Gedankengut das ich aus dem Berufsleben vorher kannte. Mehr und mehr erkannte ich, daß meine Entscheidung der Beurlaubung richtig war und daß mehr Risiko besser ist, als ein Leben lang hinter Mauern zu leben. Nach 6 Jahren beendeten wir den Aufenthalt in Südfrankreich. Das eingegangene „Risiko“ eines Neuanfanges im Osten Deutschlands scheiterte, weil uns dort ein Hamburger Ehepaar entgegen klarer Zusagen und Aussagen „über den Tisch gezogen hat“.
Hans Jürgen Stang
* mit dem damaligen Oberbürgermeister Dr. Christian Roßkopf
** siehe dazu auch meinen Artikel „Der Zivilisationswahn und die Entfremdung desMenschen von der Natur“